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Lenggries, Februar 1991

Schwächen sind überzogene Stärken...!

Seit dem letzten Seminar unterm Brauneck sind wenige Monate vergangen. In der Zwischenzeit habe ich Menschen getroffen und Entscheidungen - an dem, was damit auf mich zugekommen ist, habe ich hart zu knabbern...

Als potentielle Nr. 1 vom letzten Herbst sitze ich jetzt eher zerknirscht und resigniert im Seminarraum und kann dem Thema: Bestimme Dein Leben... so ganz bestimmt nichts abgewinnen.

Wie soll ich denn mein Leben selbst bestimmen, wenn in regelmäßigen Abständen das Leben & Co vorbei kommen und mir gehörig in die Suppe spucken? Jeder istseines Glückes Schmied!?Nett gesagt, aber erst mal muß man ja wohl mal ein Glück haben, an dem man hämmern, feilen und sägen kann...!

In mein aufkeimendes Selbstmitleid mischen sich immer öfter leise Zweifel, ob ich denn alles so richtig und gut gemacht habe - vielleicht war das Glück ja schon da, und ich habe es nur nicht gesehen. Oder vielleicht - ist ja manchmal auch ein Unglück ein Glück - richtig besehen...?

Nach dem ersten Sonnenuntergang hinterm Brauneck schließe ich Burgfrieden mit mir selber: Was war und was ist, ob es mir nun gerade gefällt oder nicht - es ist mein Leben, und wie heißt es so schön: "Ausradieren kannst Du davon nicht auch nur ein klitzekleines Stück!"

Der nächste Tag:

Auf dem Weg zum Seminarzentrum bin ich fest entschlossen, künftig besser an meinem Leben zu basteln, mich richtiger zu verhalten und klügere Entscheidungen zu treffen. Besser, richtiger, klüger...?

Dazu müßte ich ja erst mal wissen, was bisher falsch war - und so mache ich mich - nur mit halbem Ohr bei der Sache - in Gedanken auf eine Reise in die Vergangenheit....

Zwischen zwei Gedanken mischt sich ein Zitat, daß im Raum schwebt: Der wichtigste Tag in Deinem Leben ist Heute. Der wichtigste Mensch ist der, der Dir gerade gegenübersteht. Deine wichtigste Entscheidung ist die, die Du jetzt gerade triffst...!

Das sitzt! Statt mich mit dem zu beschäftigen, was irgendwann einmal so oder so war, ist es wirklich besser, nicht mehr nach hinten oder vorne zu sehen, sondern das aufzunehmen, was jetzt gerade passiert.

Aber bin ich dazu nicht zu nachdenklich, zu geschwätzig, zu ernsthaft, zu sehr beschäftigt.... - und genau das ist es: ich bin ZU!

Mein erster zaghafter Versuch, einfach nur ganz im Hier und Jetzt zu sein, wird prompt mit einem Satz belohnt, den ich vor lauter Zurück-und-Vorwärts-Denken um ein Haar verpaßt hätte: Schwächen sind überzogene Stärken...!

Für die nächsten zwei Stunden bin ich hellwach und mittendrin in dem, was in mir und um mich herum passiert. Der Gedanke hat etwas Faszinierendes: Wenn Schwächen überzogene Stärken sind, dann würde das doch bedeuten, dass ich nachdenken kann (nur manchmal zuviel denke), dass ich reden kann (nur manchmal zuviel rede), dass ich ernsthaft sein kann (nur manchmal zu ernst bin)...!

Wenn und Würde streiche ich kurzentschlossen aus meinem Wortschatz.

Also nochmal: ich bin nicht zu- nachdenklich, geschwätzig, vorsichtig, geschäftig... -  ich kann nachdenken, reden, abwägen und schaffen...! Und das ist so!

Auf dem Heimweg zum Papyrer interviewe ich mich selbst: Nenne mir 50 Deiner schlechtesten Eigenschaften...!

Ich habe Glück: mindestens 30 fallen mir auf Anhieb ein. Mindest 30 Schwächen heißt ja, daß mindestens 30 Stärken in mir schlummern. Und die werde ich in Zukunft nicht zu sondern offen und hellwach einsetzen!