[HOME]      [VERÖFFENTLICHUNGEN]    [GEDICHTE]    [GESCHICHTEN]     [IMPRESSUM]

 

Februar 2001

Niemals geht man so ganz...

Jetzt ist es schon mehr als 5 Monate her, dass Papa gestorben ist. Ich habe mich – wenn auch mühsam – arrangiert mit dem Gefühl ein Kind ohne Vater zu sein. Eine erwachsene Frau und immer noch Tochter – Mukkes Tochter – nur seine eben nicht mehr und das tut weh...

Ich weine nicht mehr soviel, wie am Anfang. Der Schmerz ist irgendwie dumpfer geworden, der Alltag hat mich eingeholt und die Traurigkeit hab' ich meistens (manchmal) ganz gut im Griff. Trotzdem springt mich dieses Gefühl des Verlassenseins immer wieder – unvermittelt - an. Und dann ist er wieder da, dieser dicke, harte Kloß im Hals. Das Ziehen in der Brust. Und die Tränen.

Dann packt mich die Erkenntnis, dass Papa nicht mehr da ist mit so einer Wucht, dass ich am liebsten losrennen und ihn mit bloßen Händen wieder ausgraben würde. Buddeln bis zum Umfallen würde ich, wenn ich ihn nur einmal noch so vor mir sehen könnte, wie er in meiner Erinnerung lebendig ist.

Mamas Anruf an seinem Todestag werde ich nie vergessen. Manchmal hatte ich versucht mir vorzustellen wie es sein würde, wenn mich eines Tages die Nachricht von seinem Tod erreichen würde. Die Katastrophe trainieren konnten wir mehrfach. Wie oft sind wir in Richtung irgendeines Krankenhauses gedüst mit dem unguten Gefühl, zu spät kommen zu können. Die Angst um Papas Leben war fast zur Routine geworden –aber eben nur fast, und dann ist es wirklich passiert.

Als meine Kollegin mich zum dritten Mal an diesem Tag mitten aus der Schulung heraus und ans Telefon holte war ich fast sauer. Ich mußte schließlich meine Arbeit machen und die Teilnehmer hatten ein Recht auf meine volle Konzentration! Ich weiß nicht mehr, was meine Mutter genau gesagt hat. Ich habe nur was von "eingeschlafen" in Erinnerung und so, wie sie das sagte, klang es nicht nach einem friedlichen Mittagsschläfchen.

Ich war wie gelähmt. Aber ich bin wieder zurück in den Schulungsraum gegangen, wo mich sechs Augenpaare erwartungsvoll ansahen. Ich wollte tapfer sein und gefaßt und einfach nur mitteilen, dass die Schulung nicht weiter gehen könne. Die ersten zwei Worte gingen noch, aber dann war er da – dieser Kloß im Hals. Ich habe geweint, ich konnte nicht tapfer sein – und offen gestanden, wollte ich das wahrscheinlich auch gar nicht.

Die Teilnehmerinnen sind gegangen. Haben betroffen ihre Sachen zusammen gepackt und mir an der Tür Anteil nehmend die Hand gegeben. In meinem Kopf war nichts mehr, gar nichts mehr. Nur immer wieder dieser eine Gedanke: Papa ist tot!

Als sie weg waren habe ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt und die Wand angestiert. In mir war alles leer. Im Raum schien die Zeit still zu stehen. Es war, als wenn sich ein dunkles Tuch über mich und dem Rest der Welt ausgebreitet hätte.

Irgendwann habe ich dann zum Telefon gegriffen und in Mörfelden angerufen: "Können Sie meinem Mann bitte ausrichten, dass er mich dringend zurückrufen möchte. Mein Vater ist gestorben." Ich habe das gesagt, als wenn meine Stimme eine Marionette wäre. Irgendwie unbeteiligt und mit der ungeheuren Schwierigkeit selber zu begreifen, was ich da eben selber laut ausgesprochen hatte.

Dann kam unser Sohn. Eher zufällig hatte er eine Pause für einen kurzen Besuch bei mir genutzt. Ich war so schweinefroh, ihn zu sehen. Ihn in den Arm nehmen zu können und das Gefühl zu haben, nicht alleine zu sein.

Zu Hause habe ich wahllos alles was irgendwie nützlich und schwarz aussah in meine Reisetasche gestopft. Das hört sich vielleicht komisch an, aber ich habe gedacht: "Du musst zu Papa und Papa will, dass du ordentlich aussiehst..."

Die Fahrt nach Traisen verlief wie in Trance. Du fährst die gleiche Straße, wie schon hundertmal in den letzten Jahren und trotzdem sieht alles irgendwie fremd aus. Und dann die Mukke. Wir haben uns in den Arm genommen. Auch irgendwie fremd und ungewohnt. Jeder wollte tapfer sein. Jeder wollte es dem anderen nicht noch schwerer machen. Und dann haben wir funktioniert.

Am Dienstag sollte Papa vom Beerdigungsinstitut nach Traisen überführt werden. "So gegen 11 Uhr…", hatte der Bestatter gesagt. Wie hypnotisiert habe ich aus dem Fenster auf die Landstraße gesehen und nach einem schwarzen Auto Ausschau gehalten. Und dann kam Papa. In einem silberfarbenen Kombi haben sie ihn noch einmal an seinem Haus, seinem "Hü" vorbeigefahren. Wir haben auf dem Balkon gestanden. Ganz gerade. In Hab-Acht-Stellung. Versucht zu verstehen, was da gerade passiert und doch keine Chance gehabt, das Unfaßbare wirklich zu begreifen.

In der kleinen Kapelle auf dem Friedhof sollte Papa aufgebahrt werden. Mein Mann ist mit uns hingefahren. Schwer wie Blei waren die Füße bei diesem kurzen Weg von der Straße bis zum Tor.

Der Bestatter hat uns erwartet. Im offenen Sarg lag Papa.

Ganz friedlich hat er ausgesehen. Als wenn er schläft. Ich habe seinen Arm gestreichelt. Ganz vorsichtig. Ich wollte ihn ja nicht wecken. Und ich habe mir seine Hände angesehen. Seine Hände. Sie waren gefaltet um das Kreuz und die Blumen. Sie waren blass. Aber es waren Papas Hände, die ich mein ganzes Leben lang bei den unterschiedlichsten Verrichtungen gesehen hatte. Nur der Arm war kälter als sonst und ein bißchen hart. Und ich weiß nicht was schlimmer war, die Traurigkeit oder die Angst.

Am Anfang wollte ich die Beerdigung so lange wie möglich hinauszögern. So, als könnte ich Papa festhalten, solange er noch nicht begraben ist. Am Donnerstag war ich dann froh, dass die Beisetzung doch schon am Freitag sein sollte. Ich konnte es nicht mehr ertragen, dass Papa – vor allem nachts – alleine in dieser dunklen kleinen Halle lag. Ohne Licht, ohne Kerzen.

Er hat sich immer fürchterlich darüber aufgeregt, dass die Deutschen abends ihre Fenster "verrammeln" und die Rollos herunterlassen. Das werde ich nie vergessen. Wie grausam mußte es da für ihn sein, in dieser dunklen Kapelle zu liegen...

Jetzt liegt er schon seit mehr als fünf Monaten in seinem Grab. Es ist ein schöner Platz, ein wunderschöner Platz mit der Kirche im Rücken und Blick auf den Hü. Manchmal glaube ich, dass er dort wirklich beerdigt ist. Und dann freue ich mich, weil ich glaube, dass der Ausblick ihm gefällt. Manchmal stehe ich vor diesem Grab und frage mich, was ich hier eigentlich will. Dann kann ich mir nicht vorstellen, dass diese schwere, lehmige Erde ihn für immer begraben hat.

Der schönste Blick für mich ist der von der Straße durch das Friedhofstor. Dann muß ich nicht daran denken, dass er wirklich dort liegt. Dann sehe ich nur sein Kreuz und spüre den Frieden, den er jetzt für sich gefunden hat. Dann muß ich immer an den Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland denken. Dann glaube ich, ganz fest, dass Papa noch da ist. Irgendwo – weiß der Himmel. Dann höre ich ihn manchmal sprechen oder lachen. Sehe sein Gesicht und seine Augen, die so unvergesslich und einzigartig waren und sind.

Manchmal habe ich das ganz gute Gefühl, dass Papa mich nicht alleine gelassen hat. Dass er als Schutzengel ein Auge auf mich hat. Dass er mich wirklich behütet und beschützt und mir zur Seite steht. Manchmal bin ich aber auch fürchterlich wütend, weil es nicht in Ordnung ist, dass ein Vater sich so einfach aus dem Staub macht und verduftet und sich einen Scheiß darum schert, wie man ohne ihn zu Recht kommt.

Meistens bin ich aber einfach nur traurig und ein bißchen wehmütig, weil ich ihn so sehr vermisse. Und dann bin ich wütend auf mich, weil ich ihn zu Lebzeiten manchmal zum Teufel gewünscht habe wegen seiner Marotten.

Beten habe ich wieder gelernt, seit Papa tot ist. Hände falten und darum bitten, dass der liebe Gott sich gut um ihn kümmert und nebenbei noch ein bißchen Zeit hat, auch auf mich und die Menschen die ich liebe aufzupassen. Das wird nicht leicht sein, denn Papa kann einen schon ganz schon auf Trab halten.

Am nächsten bin ich ihm auf dem "Hü". Bei der Mukke. Da wo er so gerne gelebt und seine unnachahmlichen Spuren hinterlassen hat. Dort habe ich ein unwahrscheinlich friedliches Gefühl. Dort kann ich ihn am deutlichsten spüren. Und dort kann ich vor allem eines tun, was Papa sich sicher immer sehnlichst gewünscht hat: ihm, seinen Träumen und seinen Gedanken ganz nahe sein...